Einmal und nie wieder by Theodor Lessing

Einmal und nie wieder by Theodor Lessing

Autor:Theodor Lessing
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bertelsmann


18. Befreiung

Dem Stillgewordenen, der nicht mehr gegen das Schicksal anrennt, sendet das Schicksal befreiende Helfer. Zwei Seelen sind in Hameln meine Helfer geworden.

In dem Lüderschen Parke, darin ich wohnte, stand ein Gartenhaus. Das war vermietet an eine arme Witwe, die in den drei Stuben wohnte mit ihrem Sohne Heinrich, einem Burschen in meinem Alter, der auf der Werft als Schiffsschlosser arbeitete. Diese Frau faßte für den melancholischen Schüler eine zarte Neigung. Oft legte sie kleine, tröstende Gaben auf meinen Arbeitstisch: die ersten Schneeglöckchen, eine Düte Kirschen, ein Stückchen Schokolade. Sie erwarb ihren Unterhalt mit Nähen und Plätten und kam in die Familien der Honoratioren. Und wohin sie kam, verkündete sie das Lob des fleißigen, fremden Schülers. Auch beim Schultyrannen, dem gefürchteten »Gelben« bügelte sie und warf ihm an den Kopf, einen braveren Primaner gäbe es nicht und wenn er den im Examen rasseln lasse, dann hätte sie die längste Zeit seine Kragen und Hemden gebügelt. Als im strengen Winter die langen Abende kamen, da brannte mein Arbeitslämpchen oft bis in die Nacht. Dann pochte gegen elf Mutter Schröder ans Gartenfenster. »Gehn Sie doch schlafen. Morgen früh können Sie fertig arbeiten.« Dann schlief ich beruhigt ein. Morgens gegen fünf klopfte es abermals an die Scheiben. Dann sprang ich aus den Federn, zerschlug die Eiskruste über meiner Waschschüssel, wusch mich, schlüpfte in die Kleider, sprang durch das niedrige Fenster in den weißen Park und klomm im Gartenhaus die Holzstiege hinan zu Frau Schröders blitzend saubren Stuben. Da brannte schon das Holz im Kachelofen und nebenan schlief Heinrich. Die Mutter kochte für beide Jungen Kaffee. Immer schlug sie in meine Tasse ein Ei. »Für Sie ist das nötig. Sie sind schwächer als Heinrich.« Ich begann nun zu büffeln, zu ochsen, alles nicht Gelernte nachzuholen. Sie saß dabei mit ihrer Flickarbeit. Gegen sieben begleitete ich dann Heinrich zur Weser hinunter.

Diese Stube wurde mir zur Heimat, so sehr, daß in späteren Jahren ich oft Heimweh gespürt habe nach diesem einfältigen Idyll, denn die zarte blonde Frau war schwindsüchtig und starb schon bald nach meinem Abgang zur Universität. Dreißig Jahre später habe ich ihren versunkenen Grabstein unter den Armengräbern aufgefunden. Sie hieß Sibylle Schröder und kam aus Düren im Rheinland.

Der zweite, der mir half, war Max Schneidewin, der bedeutendste meiner Lehrer. Er entstammte einer alten Göttinger Professorenfamilie. Schon Vater und Großvater waren große Gräzisten gewesen, und seine eigene Gelehrsamkeit – er sprach die alten Sprachen besser als die Muttersprache – hätte ihn zur Zierde jeder Universität gemacht. Aber ein eigentümliches Ungeschick hatte ihn altern lassen in einem Beruf, zu dem er nicht paßte.

Es geschah zum ersten Male, daß ein Mensch mir begegnete, der nicht als Lehrer mich meistern wollte, was sofort eine Gegenwehr rege machte, sondern als ein Märtyrer seiner Geistigkeit bei mir Schutz suchte vor der Gemeinheit des Lebens, darunter er so tief litt wie ich selbst.

In Max Schneidewin glühte ein großes geistiges Leben. Er war der nahe Freund Eduard von Hartmanns, des damals mächtigsten deutschen Philosophen. Er war auch nah befreundet mit Eduard Griesebach,



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